Die nicht erkannter Organschaft – und die Aufrechnung des Finanzamts mit USt-Erstattungsansprüchen im Insolvenzverfahren

Der Rechtsgrund für eine Erstattung von Umsatzsteuer wird auch dann im insolvenzrechtlichen Sinne bereits mit der Leistung der entsprechenden Vorauszahlungen gelegt, wenn diese im Fall einer nicht erkannten Organschaft zunächst gegen die Organgesellschaft festgesetzt und von dieser auch entrichtet worden sind.

Die nicht erkannter Organschaft – und die Aufrechnung des Finanzamts mit USt-Erstattungsansprüchen im Insolvenzverfahren

In dem hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall aus Thüringen war mit Beschluss des Amtsgerichts vom 01.12.2011 wurde über das Vermögen der AB-GmbH (GmbH) das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Zum Insolvenzverwalter wurde Rechtsanwalt S bestellt. Das Finanzamt meldete am 21.12.2011 Forderungen wegen Umsatzsteuer-Vorauszahlung für September 2011 und wegen Umsatzsteuer für 2011 zur Insolvenztabelle an. Der Insolvenzverwalter bestritt diese Forderungen und teilte dem Finanzamt mit, dass nach den ihm vorliegenden Unterlagen zwischen der GmbH und dem Einzelunternehmen A eine Organschaft bestehe, mit der GmbH als Organgesellschaft. Das Finanzamt erließ für die GmbH gleichwohl Feststellungsbescheide wegen Umsatzsteuer-Vorauszahlung für September 2011 und wegen Umsatzsteuer für 2011. In der Folgezeit bestätigte das für das Einzelunternehmen A zuständige Finanzamt P das Bestehen der umsatzsteuerlichen Organschaft. Es nahm zu Lasten der GmbH als Organgesellschaft gemäß §§ 73, 191 AO eine Haftungsberechnung für die vom Organträger geschuldeten Umsatzsteuern und Nebenleistungen vor und meldete diesen Betrag zur Tabelle an. Die Haftungsberechnung enthielt nur Steuerforderungen, die ohne die Organschaft von der GmbH selbst zu entrichten gewesen wären. Daraufhin widerrief das Finanzamt die Feststellungsbescheide über die Umsatzsteuer-Vorauszahlung für September 2011 und über die Umsatzsteuer für 2011 und verrechnete durch Umbuchungsmitteilung die von der GmbH für 2011 bereits gezahlte Umsatzsteuer mit der vom Finanzamt P angemeldeten Haftungsschuld, soweit sich diese auf die von dem Organträger für Oktober und November 2011 geschuldete Umsatzsteuer bezog.

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Der Insolvenzverwalter widersprach der Verrechnung und beantragte die Erteilung eines Abrechnungsbescheids. In diesem Abrechnungsbescheid bestätigte das Finanzamt die vorgenommene Verrechnung. Die hiergegen nach erfolglosem Einspruch gerichtete Klage blieb vor dem Thüringer Finanzgericht ohne Erfolg1. Der Bundesfinanzhof bestätigte dies nun und wies auch die Revision des Insolvenzverwalters zurück; das Thüringer Finanzgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der angefochtene Abrechnungsbescheid rechtmäßig ist:

Der von dem Insolvenzverwalter geltend gemachte Erstattungsanspruch ist nach § 47 AO erloschen, da das Finanzamt gegen diesen Anspruch nach § 226 Abs. 1 AO i.V.m. §§ 387 ff. BGB wirksam aufgerechnet hat. Diese Aufrechnung ist nicht nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO unzulässig.

Nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist die Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist.

Ob ein Insolvenzgläubiger vor oder nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens etwas zur Insolvenzmasse schuldig geworden ist, bestimmt sich nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs danach, ob der Tatbestand, der den betreffenden Anspruch begründet, nach den steuerrechtlichen Vorschriften bereits vor oder erst nach Insolvenzeröffnung vollständig verwirklicht und damit abgeschlossen ist. Entscheidend ist, ob sämtliche materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für die Entstehung eines Erstattungsanspruchs im Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bereits erfüllt waren2.

Ein Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO aufgrund zu hoher bzw. nicht geschuldeter Vorauszahlungen entsteht (§ 38 AO) nach ständiger Rechtsprechung bereits im Zeitpunkt der Entrichtung der jeweiligen Vorauszahlung unter der aufschiebenden Bedingung, dass am Ende des Besteuerungszeitraums die geschuldete Steuer geringer ist als die Vorauszahlung3. Dementsprechend wird nach der Bundesfinanzhofsrechtsprechung der Rechtsgrund für eine Erstattung von Einkommensteuer (auch) im insolvenzrechtlichen Sinne bereits mit der Leistung der entsprechenden Vorauszahlungen gelegt4. Für Umsatzsteuer-Vorauszahlungen gilt das gleichermaßen5.

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Erst recht muss dies für solche Vorauszahlungen gelten, die von vornherein ohne (materiellen) Rechtsgrund geleistet worden sind; denn in diesem Fall steht der Erstattungsanspruch noch nicht einmal unter einer aufschiebenden Bedingung.

Die (verfahrensrechtliche) Festsetzung des Erstattungsanspruchs und ebenso dessen Änderung oder Aufhebung sind für den Zeitpunkt der insolvenzrechtlichen Entstehung nicht maßgeblich6. Ebenfalls nicht maßgeblich ist der Zeitpunkt, zu dem die den zu erstattenden Zahlungen zugrunde liegenden Steuerfestsetzungen oder -anmeldungen aufgehoben worden sind7. Es ist insolvenzrechtlich ausreichend, dass der Sachverhalt, der zu der Entstehung des Erstattungsanspruchs führt, verwirklicht ist8.

An diesen Grundsätzen hat sich durch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu §§ 14c, 17 UStG und zu § 16 GrEStG nichts geändert9; denn diese Regelungen gewähren allesamt eigenständige Berichtigungsansprüche mit jeweils eigenen materiell-rechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen, an die sich besondere Rechtsfolgen knüpfen, denen keine Rückwirkung zukommt10. Auf den Fall eines Erstattungsanspruchs nach § 37 Abs. 2 AO aufgrund zu hoher bzw. materiell-rechtlich nicht geschuldeter Vorauszahlungen ist diese Rechtsprechung nicht anwendbar.

Ausgehend von diesen Rechtsgrundsätzen ist der hier streitige Erstattungsanspruch des Insolvenzverwalters materiell-rechtlich bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden. Das streitige Guthaben aus der Umsatzsteuer für 2011 beruhte nach den nicht angefochtenen Feststellungen des Finanzgericht auf Vorauszahlungen, die von der GmbH bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens geleistet wurden, ohne dass hierfür -wegen des Bestehens einer Organschaft mit der GmbH als Organgesellschaft- ein (materieller) Rechtsgrund bestand. Das Finanzamt ist somit in Bezug auf diesen Erstattungsanspruch bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens i.S. von § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO „etwas zur Insolvenzmasse schuldig“ geworden.

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Die Aufrechnung ist auch nicht nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig gewesen.

Eine Aufrechnung ist nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat. Gemäß § 129 InsO kann der Insolvenzverwalter Rechtshandlungen, die vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sind und die Insolvenzgläubiger benachteiligen, nach Maßgabe der §§ 130 bis 146 InsO anfechten. „Rechtshandlung“ in diesem Sinne ist jedes Tun oder Unterlassen (§ 129 Abs. 2 InsO), das eine rechtliche Wirkung nach außen auslöst; erfasst werden hierbei nicht nur Willenserklärungen, sondern auch Realakte -wie z.B. Zahlungen- und Prozess- und Vollstreckungshandlungen11.

Dass der Erstattungsanspruch des Insolvenzverwalters auf Zahlungen beruht, die die GmbH in dem hier nach §§ 130 ff. InsO maßgeblichen Zeitraum geleistet hätte, hat das Finanzgericht nicht festgestellt. Es wäre Aufgabe des Insolvenzverwalters gewesen, der sich auf § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO beruft, konkret vorzutragen, welche Zahlungen von der GmbH wann geleistet worden sind; denn die Beweislast für die Voraussetzungen des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO trifft den Insolvenzverwalter12. Dies hat der Insolvenzverwalter nicht getan.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 15. Oktober 2019 – VII R 31/17

  1. ThürFG, Urteil vom 16.03.2017 – 1 K 512/15, EFG 2018, 1009[]
  2. ständige Rechtsprechung, vgl. BFH, Urteile vom 15.01.2019 – VII R 23/17, BFHE 263, 305, BStBl II 2019, 329; vom 12.06.2018 – VII R 19/16, BFHE 261, 463; und vom 08.11.2016 – VII R 34/15, BFHE 256, 6, BStBl II 2017, 496, m.w.N.[]
  3. vgl. BFH, Urteil vom 20.09.2016 – VII R 10/15, BFH/NV 2017, 442, Rz 18, m.w.N.; BFH, Beschluss vom 26.11.2013 – VII B 243/12, BFH/NV 2014, 581; ebenso Urteil des Bundesgerichtshofs -BGH- vom 18.04.2013 – IX ZR 90/10, BFH/NV 2013, 1376; s. ferner auch Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 37 AO Rz 46; Schmieszek in Gosch, AO § 37 Rz 38; Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 37 AO Rz 32; Klein/Ratschow, AO, 14. Aufl., § 38 Rz 31[]
  4. BFH, Urteil vom 28.02.2012 – VII R 36/11, BFHE 236, 202, BStBl II 2012, 451; BFH, Beschluss vom 07.06.2006 – VII B 329/05, BFHE 212, 436, BStBl II 2006, 641; ebenso zum Konkursrecht bereits BFH, Urteil vom 06.02.1996 – VII R 116/94, BFHE 179, 547, BStBl II 1996, 557[]
  5. vgl. BFH, Urteil vom 31.05.2005 – VII R 74/04, BFH/NV 2005, 1745, m.w.N.; s.a. Boeker in HHSp, § 37 AO Rz 32; Klein/Ratschow, a.a.O., § 38 Rz 31[]
  6. s. BFH, Urteil vom 22.03.2011 – VII R 42/10, BFHE 233, 10, BStBl II 2011, 607, Rz 19, m.w.N.; ebenso BGH, Urteil in BFH/NV 2013, 1376; s. ferner Drüen in Tipke/Kruse, a.a.O., § 37 AO Rz 46; Schmieszek in Gosch, a.a.O., § 37 Rz 38; Klein/Ratschow, a.a.O., § 38 Rz 30; ebenso: Anwendungserlass zur Abgabenordnung zu § 38 Nr. 2[]
  7. vgl. BFH, Urteile vom 10.05.2007 – VII R 18/05, BFHE 217, 216, BStBl II 2007, 914; und vom 26.04.1994 – VII R 109/93, BFH/NV 1994, 839[]
  8. vgl. BFH, Urteile vom 05.10.2004 – VII R 69/03, BFHE 208, 10, BStBl II 2005, 195; und vom 16.11.2004 – VII R 75/03, BFHE 208, 296, BStBl II 2006, 193[]
  9. a.A. wohl Kahlert, Zeitschrift für Wirtschaftsrecht 2013, 500, 508 f.[]
  10. s. BFH, Urteile in BFHE 238, 307, BStBl II 2013, 36, Rz 17 zu § 17 UStG; in BFHE 256, 6, BStBl II 2017, 496, Rz 14 zu § 14c UStG, und in BFHE 263, 305, BStBl II 2019, 329, Rz 15 zu § 16 GrEStG[]
  11. vgl. BFH, Urteil vom 02.11.2010 – VII R 6/10, BFHE 231, 488, BStBl II 2011, 374, Rz 25; s. auch Jatzke in HHSp, § 251 AO Rz 265, m.w.N.[]
  12. s. Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 15. Aufl., § 96 Rz 71; K. Schmidt/Thole, Insolvenzordnung, 19. Aufl., § 96 Rz 3; MünchKomm-InsO/Lohmann/Reichelt, 4. Aufl., § 96 Rz 9, m.w.N.; vgl. zu § 55 Nr. 3 der Konkursordnung auch bereits BGH, Urteil vom 27.02.1997 – IX ZR 79/96, BGHZ 135, 30[]
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