Die Gehaltszahlung als anfechtbare Rechtshandlung

Die Zahlung von Arbeitslohn stellt eine anfechtbare Rechtshandlung im Sinne der §§ 129 ff. der Insolvenzordnung dar.

Die Gehaltszahlung als anfechtbare Rechtshandlung

Der Begriff der Rechtshandlung im Sinne der §§ 129 ff. InsO ist weit auszulegen. Als Rechtshandlung kommt jede Handlung in Betracht, die zum Erwerb einer Gläubiger- oder Schuldnerstellung führt, das heißt ein von einem Willen getragenes Handeln, das rechtliche Wirkungen auslöst und das Vermögen des Schuldners zum Nachteil der Insolvenzgläubiger verändern kann1. Erfasst werden nicht nur Rechtsgeschäfte, sondern auch rechtsgeschäfts-ähnliche Handlungen und Realakte, denen das Gesetz Rechtswirkungen beimisst2. Dass die Rechtswirkungen (unabhängig vom Willen der Beteiligten) kraft Gesetzes eintreten, ist dabei unbeachtlich3.

Unter anderem hat der Bundesfinanzhof in Übereinstimmung mit dem BGH und der allgemein vertretenen Auffassung die Leistungserbringung im Umsatzsteuerrecht als eine Rechtshandlung im Sinne des § 129 InsO angesehen4. Die Umsatzsteuer entsteht zwar von Gesetzes wegen, das Entstehen von Umsatzsteuer beziehungsweise Vorsteuer setzt jedoch voraus, dass eine Leistung erbracht wird5. Auch der XI. Bundesfinanzhof hat entschieden, dass Handlungen des Schuldners oder Dritter, die zum Entstehen einer Umsatzsteuerschuld führen, eine Rechtshandlung darstellen, durch die das Schuldnervermögen belastet wird6. Nach dem Bundesfinanzhof ist diese Rechtsprechung -unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung im BFH, Beschluss vom 21.12.1998 – VII B 175/98, BFH/NV 1999, 745, unter 3.- auch auf die Lohnsteuer anzuwenden; auf den Umstand, dass die Lohnsteuer kraft Gesetzes durch Erfüllung der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen, nämlich nach § 38 Abs. 2 Satz 2 EStG mit Zahlung des Arbeitslohns, entsteht und nicht durch die Rechtshandlung selbst, kommt es nicht an.

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Darüber hinaus hat der Bundesfinanzhof auch die Herstellung einer Aufrechnungslage durch Rechtshandlungen als eigenständige Rechtshandlung angesehen und ihre selbständige Anfechtbarkeit bejaht7. Die Herstellung einer Aufrechnungslage durch Rechtshandlungen wirkt grundsätzlich gläubiger-benachteiligend im Sinne des § 129 Abs. 1 InsO, da sich die Befriedigungsmöglichkeiten der übrigen Insolvenzgläubiger durch eine wirksame Aufrechnung eines Insolvenzgläubigers verschlechtern8.

Dass die Rechtshandlung unmittelbar und unabhängig vom Hinzutreten etwaiger weiterer Umstände (zum Beispiel Abgabe einer Steueranmeldung) eine Aufrechnungslage zum Entstehen bringen müsste, setzt § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht voraus. Er verlangt lediglich, dass die Rechtshandlung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist, sie irgendeine Voraussetzung für die Aufrechnungsmöglichkeit des Insolvenzschuldners geschaffen hat und die Insolvenzgläubiger benachteiligt9.

Im hier vom Bundesfinanzhof entschiedenen Streitfall hat die Arbeitgeberin (Insolvenzschuldnerin) dadurch eine Rechtshandlung vorgenommen, dass sie im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens ihren Arbeitnehmern Lohn überwiesen hat.

Diese Rechtshandlung hat auch zu einer objektiven Gläubigerbenachteiligung geführt. Denn durch die Überweisung der Löhne ist bei der Schuldnerin insofern eine Verschlechterung der Vermögenssituation eingetreten, als sie infolgedessen für die Entrichtung der Lohnsteuer einzustehen hatte. Wie bereits aufgezeigt, entsteht die Lohnsteuer gemäß § 38 Abs. 2 Satz 2 EStG in dem Zeitpunkt, in dem der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer zufließt. Zwar ist gemäß § 38 Abs. 2 Satz 1 EStG der Arbeitnehmer Schuldner der Lohnsteuer. Der Arbeitgeber haftet jedoch gemäß § 42d Abs. 1 Nr. 1 EStG für die Lohnsteuer, die er einzubehalten und abzuführen hat. Der Haftungsanspruch entsteht (§ 38 AO), sobald die einzubehaltende Lohnsteuer zum Fälligkeitszeitpunkt nicht an das Finanzamt abgeführt wird10. Dadurch besteht -zumindest mittelbar- die Möglichkeit, dass das Vermögen der Schuldnerin beeinträchtigt wird.

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Auch die Kausalität zwischen der Rechtshandlung und der objektiven Gläubigerbenachteiligung liegt vor, weil gerade durch die Zahlung der Löhne die Lohnsteuerschuld entstanden ist.

Des Weiteren liegt ausgehend von der oben dargestellten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs eine Rechtshandlung auch darin, dass infolge der Zahlung der Arbeitslöhne eine Aufrechnungsmöglichkeit zugunsten des Finanzamtes geschaffen wurde.

Das Finanzgericht hat auch zu Recht die (besonderen) Voraussetzungen einer inkongruenten Deckung im Sinne von § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO bejaht.

Nach dieser Vorschrift ist eine Rechtshandlung anfechtbar, die einem Insolvenzgläubiger eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht hat, die er nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zu beanspruchen hatte, wenn die Handlung im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag vorgenommen worden ist.

Die Überweisung des Lohns wurde im Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens und somit innerhalb der in § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO genannten Frist vorgenommen.

Auch hat die Überweisung des Arbeitslohns zur Entstehung der Lohnsteuer und in der weiteren Folge zur Entstehung einer Aufrechnungslage geführt, sodass dem Finanzamt eine Möglichkeit zur Befriedigung gegeben wurde. Denn gemäß § 389 BGB bewirkt die Aufrechnung, dass die Forderungen, soweit sie sich decken, als in dem Zeitpunkt erloschen gelten, in welchem sie zur Aufrechnung geeignet einander gegenübergetreten sind. Eine unmittelbare Befriedigung des Finanzamtes (Gewährung einer Befriedigung) ist demgegenüber noch nicht anzunehmen, weil die Aufrechnung zunächst noch von einer entsprechenden Erklärung des Finanzamtes gemäß § 388 BGB abhing.

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Das Finanzamt hatte keinen Anspruch auf die Befriedigungsmöglichkeit im Wege der Aufrechnung.

Nach der Rechtsprechung des BGH richtet sich die Beurteilung, ob die Begründung der Aufrechnungslage zu einer kongruenten oder einer inkongruenten Deckung führt, danach, ob der Aufrechnende einen Anspruch auf Abschluss der Vereinbarung hatte, welche die Aufrechnungslage entstehen ließ, oder ob dies nicht der Fall war. Dabei stellt der BGH maßgeblich auf das zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger bestehende Rechtsverhältnis ab11. Allerdings setzt eine die Aufrechnungsbefugnis begründende Verknüpfung zwischen Haupt- und Gegenforderung nicht voraus, dass die Aufrechnung ausdrücklich vereinbart wird, weil es sich bei dieser um ein echtes Erfüllungssurrogat handelt. Die Einordnung des Erwerbs einer Aufrechnungslage als kongruent oder inkongruent richtet sich also entscheidend nach dem Inhalt der Rechtsbeziehungen zwischen dem Insolvenzschuldner und seinem Gläubiger12. Somit ist § 131 InsO einschlägig (und nicht ein Fall einer sogenannten kongruenten Deckung gemäß § 130 InsO gegeben), wenn sich die Aufrechnungsbefugnis nicht aus dem zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger zuerst entstandenen Rechtsverhältnis ergibt13.

Im Streitfall bestand ein Anspruch des Finanzamtes auf Begleichung der Lohnsteuer durch Zahlung, nicht aber darauf, dem Finanzamt die Möglichkeit einer Erfüllung des Körperschaftsteuererstattungsanspruchs der Schuldnerin durch Aufrechnung zu verschaffen. Die Aufrechnungslage ist vielmehr dadurch entstanden, dass die Schuldnerin die Lohnzahlung geleistet hat, ohne dass sich dies aus einem Rechtsverhältnis zwischen der Schuldnerin und dem Finanzamt ergeben hätte oder dieses darauf auch nur hätte Einfluss nehmen können. Auch eine gesetzliche Privilegierung des Finanzamtes gegenüber den anderen Insolvenzgläubigern bestand nicht. Ohne die -eher zufällig entstandene- Möglichkeit der Aufrechnung hätte das Finanzamt die Steuererstattung zur Masse auszahlen müssen und die Lohnsteuerforderung gemäß §§ 174 ff. InsO zur Tabelle anmelden können.

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Bundesfinanzhof, Urteil vom 18. April 2023 – VII R 35/19

  1. BGH, Urteil vom 22.10.2009 – IX ZR 147/06, unter II. 2.b aa, m.w.N.; vgl. auch BGH, Urteil vom 20.04.2017 – IX ZR 252/16, BGHZ 214, 350, Rz 28[]
  2. BGH, Urteile vom 22.10.2009 – IX ZR 147/06, unter II. 2.b aa; vom 14.12.2006 – IX ZR 102/03, BGHZ 170, 196, unter II. 3.a, m.w.N., zum Einbringen einer Sache, das zu einem Vermieterpfandrecht führt; und vom 09.07.2009 – IX ZR 86/08, unter II. 2.c aa, m.w.N., zum Brauen von Bier, welches die Biersteuer und die Sachhaftung des Bieres entstehen lässt[]
  3. vgl. BFH, Urteil vom 02.11.2010 – VII R 62/10, BFHE 232, 290, BStBl II 2011, 439, Rz 20 f., unter Aufgabe der früheren Rechtsprechung im BFH, Urteil vom 16.11.2004 – VII R 75/03, BFHE 208, 296, BStBl II 2006, 193[]
  4. vgl. BFH, Urteile vom 02.11.2010 – VII R 62/10, BFHE 232, 290, BStBl II 2011, 439, Rz 20 f.; und vom 02.11.2010 – VII R 6/10, BFHE 231, 488, BStBl II 2011, 374, Rz 25; Probst in Hartmann/Metzenmacher, Umsatzsteuergesetz, VIII. 4.03.3 Rz 190; Kirch in eKomm Ab 09.06.2021, § 251 AO, Rz 57; Jatzke in Hübschmann/Hepp/Spitaler -HHSp-, § 251 AO Rz 266[]
  5. BFH, Urteil vom 02.11.2010 – VII R 62/10, BFHE 232, 290, BStBl II 2011, 439, Rz 20[]
  6. BFH, Urteil vom 03.08.2022 – XI R 44/20, BFHE 277, 46, Rz 27[]
  7. vgl. BFH, Urteil vom 18.02.2020 – VII R 39/18, BFHE 268, 391, BStBl II 2023, 224, Rz 37; vgl. auch BGH, Urteil vom 22.10.2009 – IX ZR 147/06[]
  8. vgl. BGH, Urteil vom 22.10.2009 – IX ZR 147/06, Rz 11; BFH, Urteil vom 02.11.2010 – VII R 62/10, BFHE 232, 290, BStBl II 2011, 439, Rz 22 ff.[]
  9. BFH, Urteile vom 02.11.2010 – VII R 62/10, BFHE 232, 290, BStBl II 2011, 439, Rz 21, m.w.N.; und vom 02.11.2010 – VII R 6/10, BFHE 231, 488, BStBl II 2011, 374, Rz 26, m.w.N.[]
  10. Schmidt/Krüger, EStG, 42. Aufl., § 42d Rz 10[]
  11. BGH, Urteil vom 08.12.2022 – IX ZR 175/21, Rz 7, m.w.N.[]
  12. BGH, Urteil vom 08.12.2022 – IX ZR 175/21, Rz 9, m.w.N.[]
  13. BGH, Urteil vom 09.02.2006 – IX ZR 121/03, unter II. 1.; vgl. u.a. auch BGH, Urteil vom 05.04.2001 – IX ZR 216/98, BGHZ 147, 233; vgl. dazu auch BFH, Urteil vom 02.11.2010 – VII R 62/10, BFHE 232, 290, BStBl II 2011, 439, Rz 34[]
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