Der verfristete Energiesteuer-Entlastungsanspruch – und der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Die Versäumung der Antragsfrist nach § 96 Abs. 2 EnergieStV steht wegen des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes dem in § 52 Abs. 1 EnergieStG normierten und auf Art. 14 Abs. 1 Buchst. c EnergieStRL beruhenden Entlastungsanspruch für die für die Schifffahrt in Meeresgewässern der Gemeinschaft verwendeten Energieerzeugnisse nicht entgegen, wenn die materiellen Voraussetzungen für den Entlastungsanspruch erfüllt sind.

Der verfristete Energiesteuer-Entlastungsanspruch – und der unionsrechtliche Verhältnismäßigkeitsgrundsatz

Gemäß § 52 Abs. 1 Satz 1 EnergieStG wird eine Steuerentlastung auf Antrag gewährt für nachweislich versteuerte Energieerzeugnisse, die zu den in § 27 EnergieStG genannten Zwecken verwendet worden sind. Gemäß Satz 2 wird die Steuerentlastung für Energieerzeugnisse der Unterpos. 2710 19 41 bis 2710 19 49 KN im Fall des § 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnergieStG nur gewährt, wenn diese ordnungsgemäß gekennzeichnet sind. Energieerzeugnisse der Unterpos. 2710 19 41 bis 2710 19 99 KN dürfen gemäß § 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnergieStG steuerfrei verwendet werden in Wasserfahrzeugen für die Schifffahrt mit Ausnahme der privaten nichtgewerblichen Schifffahrt.

Im hier entschiedenen Fall konnte der Bundesfinanzhof es dahinstehen lassen, ob die Steuerschuldnerin die Antragsfrist gemäß § 96 Abs. 2 EnergieStV versäumt hat oder ob § 96 Abs. 2 Satz 4 EnergieStV i.d.F. der Verordnung zur Änderung der Energiesteuer- und der Stromsteuer-Durchführungsverordnung vom 20.09.20111 noch auf den Streitfall anzuwenden war, obwohl diese Vorschrift mit Wirkung vom 01.01.20182 aufgehoben worden ist.

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Nach § 96 Abs. 2 Satz 4 EnergieStV in der genannten Fassung wurde unter der Voraussetzung, dass die Steuerfestsetzung erst erfolgt, nachdem die Energieerzeugnisse verwendet worden sind, die Steuerentlastung gewährt, wenn der Antrag spätestens bis zum 31.12. des Jahres gestellt wurde, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer festgesetzt worden ist.

Weil die Energiesteuer im Streitfall erst mit den Bescheiden vom 21.12.2017 festgesetzt worden ist, wäre die Antragsfrist mithin erst mit Ablauf des 31.12.2018 abgelaufen, weshalb der Antrag der Steuerschuldnerin am 31.12.2018 rechtzeitig beim Hauptzollamt eingegangen wäre. Auf die Anwendung des § 96 Abs. 2 Satz 4 EnergieStV kommt es im Streitfall jedoch nicht an.

Jedenfalls stünde eine Versäumung der in § 96 Abs. 2 EnergieStV festgelegten Antragsfrist dem Entlastungsanspruch nach § 52 EnergieStG wegen des unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nicht entgegen.

Bei der Ausübung ihrer Befugnisse müssen die Mitgliedstaaten die allgemeinen Rechtsgrundsätze beachten, die Bestandteil der Rechtsordnung der Union sind und zu denen insbesondere die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit gehören3. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit dürfen Maßnahmen, welche die Mitgliedstaaten erlassen, um eine genaue Erhebung der Steuer sicherzustellen und Steuerhinterziehungen zu verhindern, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieser Ziele erforderlich ist4.

Nach der Rechtsprechung des EuGH5 verstößt es gegen Unionsrecht, wenn die Verletzung nationaler formeller Anforderungen dadurch sanktioniert wird, dass eine obligatorische Steuerbegünstigung nach der Richtlinie 2003/96/EG des Rates vom 27.10.2003 zur Restrukturierung der gemeinschaftlichen Rahmenvorschriften zur Besteuerung von Energieerzeugnissen und elektrischem Strom6 verweigert wird. Denn die nationalen Regelungen dürfen nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um eine korrekte und einfache Anwendung solcher Befreiungen sicherzustellen und Steuerhinterziehung und -vermeidung oder Missbrauch zu verhindern7.

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Bei Anwendung dieser Grundsätze kann der Steuerschuldnerin der Entlastungsanspruch allein wegen des Versäumnisses der Antragsfrist nach § 96 Abs. 2 EnergieStV nicht verwehrt werden.

Im Streitfall handelt es sich -wie auch in den bislang vom EuGH entschiedenen Fällen- um eine obligatorische Steuerbegünstigung.

Die von der Steuerschuldnerin geltend gemachte Steuerentlastungsvorschrift des § 52 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 27 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EnergieStG dient ausweislich der Gesetzesbegründung der Umsetzung von Art. 14 Abs. 1 Buchst. c EnergieStRL8, soweit damit die Verwendung der genannten Energieerzeugnisse für die Schifffahrt in Meeresgewässern der Union begünstigt wird.

Der Begriff „Meeresgewässer der Gemeinschaft“ bezieht sich nach der Rechtsprechung des EuGH9 auf alle Gewässer, die von sämtlichen für den gewerblichen Seeverkehr tauglichen Seeschiffen einschließlich derjenigen mit der größten Kapazität befahren werden können. Er umfasst daher auch bestimmte Binnenwasserstraßen. Für die gewerbliche Seeschifffahrt taugliche Schiffe können nämlich für diese Schifffahrt auch auf bestimmten Binnenwasserstraßen bis zu bestimmten Seehäfen eingesetzt werden, auch wenn diese Häfen nicht an der Küste liegen. Diese Schifffahrt von der obligatorischen Steuerbefreiung auszunehmen, sobald sie auf Binnenwasserstraßen in Richtung Seehäfen stattfindet, würde dem innergemeinschaftlichen Handelsverkehr schaden, da dieser Ausschluss die von einer solchen Schifffahrt betroffenen Wirtschaftsteilnehmer benachteiligen und deswegen dazu führen könnte, dass ein Teil des Seeverkehrs von diesen Häfen abgezogen würde. Hierdurch würden diese Wirtschaftsteilnehmer gegenüber denjenigen, die in den an der Küste liegenden Häfen tätig sind, benachteiligt.

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Nach den bindenden Feststellungen des Finanzgericht (§ 118 Abs. 2 FGO) wurde das MS in den Hafengebieten und den dazugehörigen Zufahrten der von der Steuerschuldnerin betriebenen öffentlichen Seehäfen eingesetzt. Dort sollen durch die Saugbagger, Wasserinjektions- und Transportfunktion des MS die notwendigen Wassertiefen sichergestellt werden.

Schließlich ist der in § 96 EnergieStV vorgeschriebene Antrag nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs keine materiell-rechtliche, sondern lediglich eine formelle Voraussetzung des Steuerentlastungsanspruchs10.

Aus den vorstehenden Gründen steht eine verspätete Antragstellung dem Entlastungsanspruch nicht entgegen.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 19. Oktober 2021 – VII R 26/20

  1. BGBl I 2011, 1890[]
  2. BGBl I 2018, 84 ff.[]
  3. EuGH, Urteile Mecsek-Gabona vom 06.09.2012 – C-273/11, EU:C:2012:547, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung -HFR- 2012, 1121, und ROZ-SWIT vom 02.06.2016 – C-418/14, EU:C:2016:400, ZfZ 2017, 73[]
  4. vgl. EuGH, Urteil Gabalfrisa u.a. vom 21.03.2000 – C-110/98 bis – C-147/98, EU:C:2000:145, Rz 52, HFR 2000, 456; EuGH, Beschluss Transport Service vom 03.03.2004 – C-395/02, EU:C:2004:118, Rz 29, HFR 2005, 370, und EuGH, Urteil Collee vom 27.09.2007 – C-146/05, EU:C:2007:549, BStBl II 2009, 78, HFR 2007, 1256[]
  5. vgl. EuGH, Urteile Petrotel-Lukoil vom 07.11.2019 – C-68/18, EU:C:2019:933, ZfZ 2019, 383, und Turbogas vom 27.06.2018 – C-90/17, EU:C:2018:498, ZfZ 2018, 265[]
  6. Amtsblatt der Europäischen Union -ABl.EU- 2003, Nr. L 283, 51, i.d.F. der Richtlinie 2004/75/EG des Rates vom 29.04.2004 zur Änderung der Richtlinie 2003/96/EG im Hinblick auf die Möglichkeit der Anwendung vorübergehender Steuerermäßigungen und Steuerbefreiungen auf Energieerzeugnisse und elektrischen Strom durch Zypern, ABl.EU 2004, Nr. L 157, 100 -EnergieStRL-[]
  7. EuGH, Urteil Polihim-SS vom 02.06.2016 – C-355/14, EU:C:2016:403, Rz 62, ZfZ 2016, 196[]
  8. vgl. BT-Drs. 16/1172, S. 38[]
  9. vgl. Urteile Jan de Nul vom 01.03.2007 – C-391/05, EU:C:2007:126, ZfZ 2007, 81, und Vakar? Baltijos laiv? statykla vom 13.07.2017 – C-151/16, EU:C:2017:537, ZfZ 2017, 332[]
  10. vgl. etwa BFH, Urteil vom 18.02.2020 – VII R 39/18, BFHE 268, 391, ZfZ 2020, 272, Rz 32[]
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